Landschreiber-Lesung “1664”

11.06.2014  in der  Scheier 1664

Karin Kinast – Zwei süße Häschen

Egon, so kann das nicht weitergehen mit uns, sagte Willi und blickte seinen Kumpel besorgt an. Das ist ja wirklich ein Drama.

Die beiden saßen in Egons Küche inmitten von grünen Flaschen mit blauem Etikett, die größtenteils geleert waren. Egon bückte sich und griff nach zwei weiteren Kronenbourg 1664, die sich in einem der Kästen vor ihm auf dem Boden befanden. Fast wäre er dabei mit dem Stuhl umgekippt, hätte ihn nicht Willi an der Schulter festgehalten.

Hier, Willi! Schwungvoll reichte Egon seinem Trinkgenossen eine neue Flasche mit köstlichem goldgelbem Hopfengebräu. In weitem Bogen flogen zwei Kronenkorken durch die Luft.

Das 1664er lebe hoch! prostete Egon Willi mit leichtem Zungenschlag zu.
Mit einigen wenigen Zügen waren auch diese Flaschen geleert.
Ist ja auch nichts drin in so ’ner Flasche, amüsierte sich Egon, und demonstrierte dies, indem er seine leere Flasche umdrehte und hin- und her schwenkte.

Llllleer, betonte er noch einmal mit lallendem L.

Als Egon sich nach vorne neigte, um die nächsten zwei Kronenbourg zu holen, hielt ihn Willi zurück.

So kann das nicht weitergehen mit uns, wiederholte Willi.

So gut das Kronenbourg auch schmeckt. Das ist zu viel des Guten. Wir hängen ja nur noch zu zweit herum. Und glaub mir: noch besser schmeckt es zu viert.

Egon und Willi kannten sich nun schon 30 Jahre lang. Seit ihrer gemeinsamen Schulzeit waren sie unzertrennliche Freunde, die sich durch Freud und Leid begleitet hatten. Von der Hochzeit bis zur Scheidung sozusagen.

Egon schwieg.

Auf dem Küchentisch lag die Zeitung vom Samstag.

Willi nahm sie zur Hand und blätterte darin.

Auf der Seite mit den Kontaktanzeigen blieb er hängen.

„Kennenlernen und Verlieben“, las Willi vor.

Da, sieh mal: „Er sucht sie, sie sucht ihn, er sucht ihn und sie sucht sie. Hier, guck mal, unter Sonstige: Zwei süße Häschen warten auf dich! Da ist sogar eine Telefonnummer dabei: 1664. Wenn das kein gutes Omen ist.
Schon griff Willi sein Smartphone und wählte: 1-6-6-4.

Bist du verrückt, wollte ihn Egon noch abbremsen.

Doch zu spät.

Schon meldete sich eine etwas verschlafen wirkende weibliche Stimme.
Hallo!

Willi schaltete auf Lautsprecher und nickte Egon animierend zu.

Entschuldigen Sie die späte Störung, ich rufe wegen der süßen Häschen an, erklärte Egon und versuchte dabei, seine Stimme stabil zu halten.
Zu so später Stunde?, staunte das weibliche Gegenüber. Die Häschen schlafen schon.

Ah, na dann! Aber vielleicht könnten wir die Häschen morgen besuchen? säuselte Willi und schickte seinem Kumpel ein Augenzwinkern.

Also gut, morgen gegen 18 Uhr, da müsste es klappen.

Willis Nicken und Zwinkern hörte gar nicht mehr auf.

Und wohin dürfen wir kommen?

Egon war mittlerweile hellwach und hing dicht gedrängt an seinem Kumpel.

Also, kommen Sie in die …

Schreib auf!, stieß Willi Egon an.

… Kronengasse 16, 6. Stock, Tür 4.

Wunderbar, bis morgen!, verabschiedete sich Willi und wandte sich Egon zu.

Dieser starrte auf die Adresse, die er am Zeitungsrand notiert hatte, und machte ein erstauntes Gesicht.

Kronengasse 16/6/4, las er vor und grinste. Dann ergänzte er Tel. 1-6-6-4.

Egon war vollkommen aus dem Häuschen.

Unser Lieblingsbier!, jauchzte er. Willi, das hat was zu bedeuten!

Genau, unser Lieblingsbier!, begeisterte sich auch Willi. Und damit Schluss für heute. Morgen 1664er Hasen. Jetzt ab ins Bett, damit wir morgen fit sind.

Das Haus in der Kronengasse 16 war ein mehrstöckiger imposanter Neubau.

Willi drückte die Klingel.

Dachgeschoss!, ertönte es aus der Gegensprechanlage.

Und wenn die beiden nun gar kein 1664er trinken und das alles nur reiner Zufall ist, hinterfragte Egon, mittlerweile unsicher und nervös geworden. Bepackt waren die beiden mit zwei Sixpack grüne Flaschen Kronenbourg 1664 und zwei Sixpack blaue Flaschen Kronenbourg 1664 blanc.

Die süßen Häschen trinken sicher unser gutes 1664er, beruhigte Willi seinen Freund. Das mit der Telefonnummer und der Hausnummer kann kein Zufall sein. Zur Sicherheit haben wir ja auch das Blanc dabei. Ich kann mir gut vorstellen, dass die beiden Häschen den süßen fruchtigen Geschmack des Blanc lieben.

Willi startete festen Schrittes Richtung Lift, während Egon zurückblieb.
Mensch Egon, jetzt zappel nicht so rum. Locker, immer locker bleiben. Jetzt steig schon ein.

Mach schon. Und entspann dich mal. Wir werden das Ding schon schaukeln. Kann ja nichts schiefgehen. Du wirst sehen, die süßen Häschen werden Augen machen, wenn sie dich und mich sehen, mit dem Kronenbourg in der Hand. Die werden uns gleich um den Hals fallen. Die Lifttür schloss sich und Willi drückte die 6.

Als sie vor Türnummer 4 ankamen, stand die Wohnungstür bereits offen. Eine hübsche Frau mit roten schulterlangen Haaren bat sie herein.

Oh, sie sind ja zu zweit!, sagte sie verwundert.

Ja, wir dachten, weil es doch zwei Häschen sind!

Jetzt kam sogar Willi ins Stammeln. Die Lady sah wirklich gut aus.

Kommen Sie mit, sagte die Schöne und wandte sich um. Zielstrebig ging sie durch das große Wohnzimmer und öffnete die Tür zur Dachterrasse: hier sind die beiden. Sie brauchen ein neues Zuhause. Ich hoffe, sie haben genug Platz und einen großen Käfig. Dabei zeigte sie auf einen kleinen Käfig mit zwei süßen kleinen Häschen.

Sie heißen Emmi und Linda. Und, gefallen sie Ihnen?

Egon und Willi hatten noch immer die Sixpacks in der Hand und blickten einander fragend an. Es dauerte eine Zeit, bis Willi wieder Worte fand:
Ja, also, wir hatten uns da etwas größere Häschen vorgestellt, stieß er hervor.

Aber, vielleicht mögen Sie ja trotzdem mit uns ein Kronenbourg trinken! versuchte Egon die Situation zu retten. Wir haben auch das süße Blanc dabei. Das wird ihnen sicher munden.

Nein, tut mir leid, ich trinke kein Bier, stoppte die Rotgelockte Willi energisch ab. Wenn Sie also kein Interesse an den Häschen haben … Mit einer ausladenden Handgeste wies sie den beiden den Weg zurück.

Als Egon und Willi wieder vor der Tür standen, guckten sie derart dumm aus der Wäsche, dass es einen Schnappschuss wert gewesen wäre. So sprachlos hatte Egon seinen schlagfertigen Freund noch nie gesehen. Wieder vor dem Haus angekommen, setzte sich Egon an die Bordsteinkante, köpfte ein 1664er, nahm einen tiefen Schluck und grinste.

Hier, Alter, trink, das beruhigt, rief er Willi zu, und reichte ihm seine Flasche.

In diesem Moment bremste ein rotes Beetle-Cabrio mit quietschenden Reifen direkt vor ihren Füßen.

He Jungs, wir haben euch hier sitzen gesehen!

Zwei braungebrannte Mädels mit Kopftuch und Sonnenbrille lachten Egon und Willi entgegen.

Habt ihr heute schon was vor?

Eigentlich nicht!, fand Willi seine Sprache wieder.

Dann rein mit euch und auf zur Beachparty!

Vergesst das Kronenbourg nicht!, rief die eine ...

Das Blanc ist nämlich unser Lieblingsbier! die andere.

Mit einem Satz sprangen Egon und Willi auf, schnappten die Sixpacks und schwangen sich in das Cabrio. Auf dem Nummernschild stand 1664.

© Karin Kinast

              Rheinhessische Landschreiber