Frischluftallergiker

von Uwe Jung

Meine Kinder sind zu leidenschaftlichen Stubenhockern mutiert. Schon lange kann man sie nicht mehr zum Spaziergehen motivieren. Führte vor ein paar Jahren noch der Hinweis auf einen Walderlebnispfad zum Erfolg, zieht heute nicht mal mehr die Aussicht auf ein Eis. Es fällt äußerst schwer, sie nach Draußen zu bekommen. Entweder ist es ihnen zu kalt, zu heiß, zu windig oder sie müssen noch dingend etwas für die Schule erledigen.

Ihre Mutter besteht jedoch darauf, dass sie täglich mindestens eine halbe Stunde nach draußen gehen und hat mich zum Frischluftbeauftragten ernannt, der ihre Forderung auch dann durchsetzen muss, wenn sie nicht da ist. Zunächst nahm ich das nicht so ernst, wurde aber bald dafür verantwortlich gemacht, dass meine Tochter dauernd erkältet sei, weil sie keine Abwehrkräfte habe und mein Sohn so blass wie ein Vampir sei. So bestand ich fortan konsequent darauf, dass die Kinder sich an die Vorgabe hielten und musste bald erste Täuschungsversuche erkennen.

Vor ein paar Monaten kam meine Tochter eine Viertelstunde später als sonst von der Schule. “Warum kommst Du so spät?” fragte ich und sie erwiderte: “Ich gehe jetzt immer etwas langsamer. Für heute habe ich schon genug frische Luft geschnappt.”

Ein paar Tage darauf wunderten wir uns, dass es im Haus zog. Der Grund dafür war, dass mein Sohn trotz eisiger Temperaturen bei offenem Fenster Hausaufgaben machte. Er sagte: “Was habt ihr denn. In 10 Minuten mache ich wieder zu und war dann ausreichend an der frischen Luft.”

Kurz darauf kam er mit einem blauen Brief nach Hause, da er sich wiederholt erlaubt hatte, die große Pause, die 20 Minuten dauert, um ganze 10 Minuten zu überziehen. Er suchte erst gar nicht nach einer passenden Ausrede, sondern sagte zu mir: “Oma hat mir erzählt, dass Du auch nicht raus wolltest, als Du so alt warst wie ich.”

Doch das war 1986, das Jahr der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, da wurde die Bevölkerung aufgefordert, im Haus zu bleiben. Zwei Wochen nach diesem Gespräch passierte dann die Katastrophe in Japan, das spielte dem Jungen natürlich voll in die Karten.

Einmal bin ich nachts aufgewacht und habe mich gewundert, dass auf dem Balkon Licht brennt, das konnte ich durch die Schlitze im Rollladen sehen. Ich bin aufgestanden und zunächst zur Toilette gegangen. Dann öffnete ich die Tür zum Zimmer meines Sohnes, da war alles dunkel. Lediglich der Rollladen der Balkontür war nach oben gezogen, was sonst mitten in der Nacht nicht der Fall ist, doch der Junge lag im Bett und schlief augenscheinlich.

Nach dem Frühstück kam die Auflösung des Mysteriums. Er sagte: “Ich hab mein Frischluftpensum für heute schon erfüllt, ich war von 1:58 Uhr bis 3:01 Uhr auf dem Balkon und ihr könnt euch ausrechnen, wie lange ich frische Luft geatmet habe.”

Völlig verwirrt grübelte ich über das Erzählte nach, fragte mich, was wohl in den Jungen gefahren sei, mitten in der Nacht aufzustehen und nach Draußen zu gehen und über eine Stunde dort zu bleiben. Ich war nicht in der Lage einen Kommentar dazu abzugeben, bis ich in der Zeitung las, dass in der letzten Nacht die Uhren auf Sommerzeit umgestellt wurden, da ging auch mir ein Licht auf.

Natürlich wurde ich nach der Sache mit der Zeitumstellung extrem misstrauisch. Ich habe dann vor ein paar Tagen zufällig ein Gespräch der Kinder mitbekommen. Die Kleine sagte: “Das bekommen die bestimmt raus, wenn Du sie anlügst.” Ihr großer Bruder erwiderte “Ich lüge sie ja gar nicht an, ich erzähle nur nicht alles.”

Natürlich habe ich mir Gedanken gemacht, über was die beiden sprachen. Da mein Sohn in der Pubertät ist, entwickelte ich die absurdesten Theorien. Hatte er was gestohlen oder Automaten geknackt? Raucht er oder war er zum ersten Mal betrunken? Hat er eine Freundin oder – bei weitem noch viel schlimmer – interessiert er sich mit seinen reifen vierzehn Jahren noch nicht für die Mädchen? Ich war ratlos.

Ich suchte ab sofort bei jedem Gespräch Blickkontakt und versuchte, hinter die Fassade zu schauen. Wenn die Kleine mir etwas vorflunkert und ich meinen kritischen Blick einsetze, muss sie anfangen zu schmunzeln und ich erkenne den Wahrheitsgehalt ihrer Behauptung. Mein Sohn ist da ganz anders drauf, er hält meinem Blick stand und verunsichert mich damit. Er erzählt mir etwas Unglaubliches, das ich anzweifle, macht aber einen so überzeugenden Eindruck, dass ich heimlich im Internet recherchiere, um herauszufinden ob er die Wahrheit gesprochen hat.

Letzten Mai sagte er eines Nachmittags: “Ich muss jetzt noch mal kurz weg.” “Wo willst Du hin?” fragte ich, doch er murmelte etwas unverständliches und ging nach Draußen, holte sein Fahrrad und fuhr davon. Als er zurückkam, hatte er eine Tragetasche auf dem Gepäckträger und ich rätselte, was wohl darin war.

Eigentlich wollte ich ihn genau das fragen, als ein guter Freund und Mitspieler in meiner Fußballmannschaft vorbeikam und mir seinen jüngst abgefüllten Wein mitbrachte, den ich unbedingt probieren sollte. So vergaß ich meine Absicht und erfuhr es doch am nächsten Tag.
Als mich Kaffeeduft gegen neun Uhr in die Küche lockte, empfingen mich die Kinder im Chor mit: “Alles Gute zum Vatertag!” Sie überreichten mir ein Päckchen und ein zusammengerolltes Blatt Papier. Etwas verdutzt packte ich aus.

Ich bekam eine Spraydose “Frische Brise”, eine Schirmmütze mit Ventilator und einen Duftbaum der Note “Ozeanfrisch” geschenkt und war erleichtert, dass sich keine meiner Vermutungen als wahr entpuppte. Dann wurde ich, wofür ich meine Kinder für ihren Wortwitz bewundere und – als nicht gerade schlechter Kopfballspieler auch ein wenig stolz bin, zur “Lufthoheit” ernannt.

In meiner Antrittsrede als nun anerkannter Herrscher bedankte ich mich für die Geschenke, betonte aber, dass die Regeln des täglichen Frischluftgenusses weiterhin bestehen bleiben.

An meinem Geburtstag kam dann die fürchterliche Rache meiner Untertanen. Ich hörte morgens den Briefkasten klappern und wartete einen Moment bis der Postbote weitergegangen war. Im Schlafanzug huschte ich nach draußen und holte das Päckchen heraus. In diesem Moment fiel die Tür zu. Ich klingelte und klopfte, ohne dass jemand öffnete. Ich konnte nur leises Gekicher hören. “Alles Gute zum Geburtstag!” wünschten mir meine Kinder durch die verschlossene Tür. “Du kannst Dein Geschenk jetzt öffnen!”

“Macht sofort auf!” befahl ich, ohne dass die beiden darauf reagierten, also öffnete ich das Päckchen. Es war ein Buch. Wolfgang Borchert – “Draußen vor der Tür” und auf Seite drei stand unter dem Titel in einer mir sehr gut bekannten Handschrift: “Nur noch 29 Minuten!”

© Uwe Jung

              Rheinhessische Landschreiber